Das Totenbuch
Während die Mumifizierung die Unversehrtheit des Körpers garantierte und das Grab
als Haus für die Ewigkeit diente, wurde der Verstorbene mit Grabbeigaben auch materiell
versorgt. Auf der einen Seite gehört dazu die benötigte Nahrung, die während der Bestattung
und später durch einen Totenkult gewährleistet wurde. Auf der anderen Seite zählen
zu dieser Versorgung auch Informationen über die Orte, die Bewohner und die Geschehnisse
im Jenseits. Dort musste der Verstorbene Gefahren abwehren, paradiesische Gefilde
erreichen und die Aufnahme unter die Götter erbitten. Eine der Quellen, die dem Verstorbenen
das nötige Wissen vermittelte und heute einen Einblick in diese Gedankenwelt verleiht,
nennt die moderne Ägyptologie das „Totenbuch“. Der altägyptische Titel ist „Sprüche
vom Herausgehen am Tage“, was auf den Wunsch des Verstorbenen verweist, sein Grab
verlassen zu können und sich ungehindert im Diesseits zu bewegen.
Das Totenbuch umfasst etwa 200 Sprüche und ergänzt diese zusätzlich durch Abbildungen,
sogenannte Vignetten, um die inhaltliche Aussage der Texte zu illustrieren. Die Auswahl,
der Umfang und die Qualität des jeweiligen Totenbuchs waren von den Wünschen und der
Kaufkraft des Auftraggebers abhängig, so dass jede Handschrift einzigartig ist. Aufgetragen
wurden die Sprüche auf Mumienbinden, Leichentüchern, Grabinventar und bevorzugt auf
Papyrusrollen, die man für den Verstorbenen im Grab deponierte. Da das Totenbuch vom
Beginn des Neuen Reichs an (ab ca. 1550 v. Chr.) bis zur Zeitenwende gebräuchlich
war, gehört seine Spruchsammlung zu den bedeutendsten religiösen Quellen des Alten
Ägypten.
Geschichte der Totenbuch-Forschung
Die Erforschung des Totenbuchs erreichte bereits im 19. Jahrhundert einen beachtenswerten
Stand. Ein erstes Zeichen setzte Richard Lepsius (1810-1884), der erste deutsche Professor
für Ägyptologie. Mitte des 19. Jahrhunderts edierte er das Totenbuch Turin 1791 aus
der Ptolemäerzeit in einer für damalige Verhältnisse mustergültigen Edition als Faksimile.
Vierzig Jahre später präsentierte der Schweizer Ägyptologe Édouard Naville (1844-1926)
eine synoptische Aufarbeitung des Totenbuchs, indem er für alle damals bekannten Sprüche
mehrere Parallelen publizierte und gegenüberstellte, um die Unterschiede der Texttraditionen
aufzuzeigen.
Lepsius und Naville legten zwei Meilensteine in der frühen Totenbuch-Forschung, die
bis heute Bestand haben. Bis zum Jahr 1900 wurde das Totenbuch bereits in über 200
Fachartikeln und einigen Monographien zum Teil ausführlich, manchmal auch nur am Rande,
behandelt. So war es in der jungen Wissenschaft der Ägyptologie schon früh ein viel
beachteter Text.
Marcus Müller, Februar 2012